Eskalation der Gewalt

Die Türkei siegt zwar im entscheidenden Qualifikationsspiel gegen die Schweiz mit 4:2, verliert danach aber die Fassung. Nun droht sogar der Ausschluss aus der nächsten WM-Qualifikation

AUS ISTANBUL TOBIAS SCHÄCHTER

Es waren wunderschöne Bilder, die am Mittwochnachmittag vom anderen Ende der Welt um den Globus gingen. Gewinner trösteten Verlierer, schüttelten sich die Hände und tauschten die Trikots. Es war um alles gegangen, also um die Teilnahme an einer WM. Für die Australier erfüllte sich der Traum, für die Spieler aus Uruguay nicht, aber sie gingen als Freunde auseinander.

All dies war auch im türkischen Fernsehen zu sehen. Ein großes Beispiel für wahren Sportsgeist nannte ein Reporter der türkischen Zeitung Radikal die versöhnlichen Gesten in einer Live-Sendung bei CNN-Türk kurz vor Beginn des entscheidenden WM-Qualifikationsspiels der Türkei gegen die Schweiz in Istanbul. Die von dem Journalisten geäußerte Hoffnung, dass es nach dem Abpfiff ähnlich fair zugehen möge, erfüllte sich indes nicht.

Gestern war in türkischen Zeitungen ein Foto zu sehen, auf dem ein Betreuer der türkischen Mannschaft dem Schweizer Spieler Benjamin Huggel in den Hintern tritt. Und es war ein Foto zu sehen, wie Huggel den Türken Alpay mit den Händen den Nacken nach unten drückt. Die Türken behaupten, sie wären von den Schweizern „provoziert“ (Hakan Sükür) worden. Die Schweizer behaupten, sie wären von den Türken „verschlagen“ worden (Marco Streller). Solange der offizielle Bericht der Fifa noch nicht vorliegt, sind Wahrheit und Gerücht nicht eindeutig zu unterscheiden. Als gesichert aber gilt: Im Kabinengang kam es nach dem Spiel zu Schlägereien zwischen Spielern beider Mannschaften. Auch türkische Sicherheitskräfte und Ordner schlugen auf die Schweizer Spieler ein. Mit 4:2 hatten die Türken zwar gewonnen, aber nach dem 0:2 vom Hinspiel fehlte ihnen ein Tor, um bei der WM dabei sein zu dürfen.

Nach dem Hinspiel vom vergangenen Samstag hatte sich die Hetze in den Boulevardblättern beider Länder verselbständigt, mahnende Stimmen fanden kaum noch Gehör. Das Resultat daraus war eine unsäglich aggressive Stimmung. Von der Nationalhymne der Schweiz war kein Ton zu hören, so laut war das Pfeifkonzert der Türken. Der Schweizer Trainer Jakob Kuhn stand am Ende in einem Haufen aus Fahnenstangen, Wasserflaschen, Münzen und Feuerzeugen, die von der Tribüne auf ihn geworfen wurden, vor seiner Trainerbank. Nach dem zweiten Tor der Schweizer durch Streller zum 2:3 (84.) war der 62-Jährige von einer Münze sogar am Hals getroffen worden.

Bei der Gewalteskalation hernach im Kabinengang wurde der Schweizer Ersatzspieler Stephane Grichting nach einem Tritt in die Weichteile (angeblich von einem Sicherheitsbeamten) mit Verdacht auf innere Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Ein Auge des Schweizer Torwarttrainers Erich Burgener ist nach einem Schlag blau angeschwollen. Gestern Morgen ließ Fifa-Präsident Joseph Blatter verlauten, dass die Türkei mit einer harten Strafe zu rechnen habe, selbst den Ausschluss aus der nächsten WM-Qualifikation zog Blatter in Erwägung. Alleine dies wird weitere Verschwörungstheorien in den türkischen Medien nach sich ziehen. Blatter ist Schweizer und schon bei der Auslosung wurde in türkischen Blättern Blatters Landsmannschaft mit dem Gegner als die Chancen der Türkei mindernd betrachtet.

Dass der WM-Dritte von 2002 nicht dabei ist beim Großereignis in Deutschland, hat dennoch vor allem sportliche Gründe, von denen Nationaltrainer Fatih Terim direkt nach dem Spiel versuchte abzulenken, indem er eine neue Verschwörungstheorie in die Welt setzte. „Arkadaslar“ (zu Deutsch Freunde), sagte Terim zu den türkischen Journalisten gewandt, „wie kann man gewinnen, wenn man zweimal gegen zwölf Schweizer antritt?“ Schiedsrichter für Niederlagen verantwortlich zu machen, gehört im türkischen Fußball zur Folklore. Dass die Unparteiischen in beiden Spielen keine gravierenden Fehler gemacht hatten, dürfte Terim kaum interessiert haben. Schon vor dem Rückspiel schürte der selbstherrliche Trainer-Diktator die Emotionen, nun setzte er seine Strategie der Verschwörungstheorien fort, vor allem um von seinem eigenen Versagen abzulenken.

Am Mittwochabend wunderte nicht nur Jakob Kuhn, dass die Türken „bei so viel Talent ein Kick and Rush nach alter Art“ spielten. Dennoch wäre Terims einfache Taktik – die Einschüchterung des Gegners sowie das Schlagen hoher Bälle in die Spitze auf Sükür – beinahe aufgegangen. Die junge Schweizer Mannschaft schien der aufgeheizten Stimmung nicht gewachsen, obwohl sie bereits nach 30 Sekunden durch einen berechtigten (!!!) Handelfmeter, verwandelt von Alexander Frei, in Führung gegangen war. Tuncay (24. und 38.) und Ates (52./Foulelfmeter) schossen die 3:1-Führung der Türken heraus, ehe ein schwerer Fehler von Togay Strellers Anschlusstreffer ermöglichte und das 4:2 (89./wiederum Tuncay) zu einem Sieg ohne Wert werden ließ – und die Türkei zu einem erbärmlich schlechten Verlierer.